Lehre in Österreich Fotolia.com/JiSIGN

In Österreich stellt die duale Ausbildung – gemeinhin als „Lehre“ bezeichnet – einen zentralen Bestandteil des Bildungssystems dar.
Dennoch wird sie gesellschaftlich häufig als weniger prestigeträchtig wahrgenommen als akademische Bildungswege.
Diese Einschätzung ist nicht nur empirisch schwer zu begründen, sondern wird dem Potenzial der Lehre auch in keiner Weise gerecht. 

Angesichts wachsender wirtschaftlicher Herausforderungen, eines sich verschärfenden Fachkräftemangels sowie des digitalen Wandels bietet die österreichische Lehre ein leistungsfähiges und zukunftsfähiges Qualifikationsmodell.

Dieser Beitrag beleuchtet die Struktur, Vorteile und Entwicklungsperspektiven der Lehre in Österreich und plädiert für eine differenzierte Neubewertung dieses Ausbildungsmodells im Kontext der aktuellen arbeitsmarkt- und bildungspolitischen Herausforderungen. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Frage, inwiefern die Lehre nicht nur zur individuellen Karriereentwicklung, sondern auch zur Standortsicherung und Innovationsfähigkeit Österreichs beiträgt.

Die Lehre als bewährtes und durchlässiges Ausbildungssystem

Das duale Ausbildungssystem in Österreich basiert auf einer systematischen Verzahnung von betrieblicher Ausbildung und schulischer Wissensvermittlung. Lehrlinge verbringen in der Regel 80 % ihrer Ausbildungszeit im Lehrbetrieb und rund 20 % in der Berufsschule. Diese Kombination von „Learning by Doing“ und schulischer Vertiefung ermöglicht eine umfassende Entwicklung beruflicher Handlungskompetenz. Im Sinne der Kompetenzorientierung wird so nicht nur fachliches Wissen vermittelt, sondern auch überfachliche Schlüsselkompetenzen wie Selbstständigkeit, Problemlösungsfähigkeit und Teamkompetenz werden weitergegeben.

Derzeit gibt es in Österreich über 200 anerkannte Lehrberufe, die im Berufsausbildungsgesetz (BAG) geregelt sind. Sie reichen von traditionellen Handwerksberufen über kaufmännische und technische Bereiche bis hin zu modernen Berufsbildern wie Applikationsentwicklung–Coding oder E-Commerce-Kauffrau/-mann. Die Ausbildungsdauer beträgt je nach Beruf zwei bis vier Jahre. Durch die klare Strukturierung der Ausbildungsinhalte in Ausbildungsordnungen wird ein einheitlicher Qualitätsstandard gewährleistet.

Ein besonderes Merkmal des österreichischen Systems ist seine Durchlässigkeit: Mit der Berufsmatura („Lehre mit Matura“) wurde eine Möglichkeit geschaffen, parallel zur Lehre die Studienberechtigung zu erwerben. Diese Option erlaubt eine vertikale Mobilität innerhalb des Bildungssystems und fördert damit die Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung. Absolventinnen und Absolventen stehen sowohl der Arbeitsmarkt als auch der tertiäre Bildungsbereich offen, was die Lehre zu einem integrativen Bestandteil eines lebenslangen Lernens macht.

Gesellschaftliche Wahrnehmung und die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels

Trotz der hohen Qualität der Ausbildung und der nachweislich guten Arbeitsmarktchancen von Lehrabsolventinnen und -absolventen haftet der Lehre in Teilen der Gesellschaft ein Image als „Bildung zweiter Klasse“ an. Diese Bewertung basiert oft auf veralteten Vorstellungen von beruflicher Bildung und spiegelt nicht die komplexen Anforderungen wider, die heutige Ausbildungsberufe mit sich bringen. Im Gegenteil: Viele Lehrberufe verlangen ein hohes Maß an technischer, digitaler und sozialer Kompetenz.

Internationale Vergleichsstudien, etwa der OECD, zeigen regelmäßig, dass Länder mit ausgeprägten dualen Ausbildungssystemen – wie Österreich, Deutschland oder die Schweiz – deutlich niedrigere Jugendarbeitslosigkeit aufweisen und über stabilere Übergänge in das Erwerbsleben verfügen. Die österreichische Lehre erfüllt damit nicht nur eine individuelle Bildungsfunktion, sondern auch eine gesamtgesellschaftliche Integrations- und Innovationsaufgabe. 

Ein Umdenken in Politik und Gesellschaft ist erforderlich, um die Lehre nicht als „Plan B“, sondern als gleichwertigen Bildungsweg zu etablieren.

Frühzeitige Integration in den Arbeitsmarkt

Ein entscheidender Vorteil der Lehre ist die frühe Anbindung an den realen Arbeitsmarkt. Lehrlinge sind bereits während ihrer Ausbildung produktiv tätig, lernen betriebliche Abläufe kennen und erwerben wertvolle Schlüsselqualifikationen wie Teamarbeit, Eigenverantwortung oder Kundenorientierung. Die Lehrlingsentschädigung, die mit jedem Lehrjahr steigt, ermöglicht darüber hinaus finanzielle Eigenständigkeit und reduziert Abhängigkeiten von familialer Unterstützung.

Im Vergleich zu vielen universitären Studiengängen, bei denen die berufspraktische Komponente oft erst in Form von Pflichtpraktika zum Tragen kommt, ist die Lehre in Österreich ein praxisnaher Bildungsweg mit unmittelbarem Erwerbsbezug. Dies schlägt sich auch in der Arbeitsmarktintegration nieder: Laut AMS-Daten (2023) finden über 80 % der Lehrabsolvent/-innen innerhalb von drei Monaten nach Abschluss eine Anstellung – viele davon direkt im Ausbildungsbetrieb. Diese hohe Vermittlungsquote ist ein deutliches Zeichen für die arbeitsmarktpolitische Effizienz der Lehre.

Digitalisierung und moderne Ausbildungsinhalte

Die Lehre in Österreich ist längst nicht mehr auf traditionelle Berufsprofile beschränkt. Im Zuge des digitalen Wandels wurden zahlreiche Ausbildungsinhalte modernisiert und neue Berufsbilder geschaffen. Elektronische Dokumentation, digitale Maschinensteuerung, Programmierung und IT-Sicherheit sind längst Bestandteil vieler technischer und gewerblicher Lehrberufe. Ausbildungsberufe wie Elektrotechnik, Mechatronik oder Applikationsentwicklung beinhalten heute Themen wie Automatisierung, Industrie 4.0 oder Smart-Home-Technologien.

Das Bundesministerium für Arbeit und Wirtschaft (BMAW) sowie das Institut für Bildungsforschung der Wirtschaft (ibw) überarbeiten kontinuierlich die Ausbildungsordnungen und führen neue Berufsbilder ein. So bleibt die Lehre ein dynamisches System, das sich flexibel an die Erfordernisse des Arbeitsmarktes anpasst. Durch diese Innovationsfähigkeit trägt die Lehre wesentlich dazu bei, Österreichs Wirtschaftsstandort wettbewerbsfähig zu halten.

Weiterbildungsoptionen und Karrierechancen

Ein weit verbreitetes Missverständnis besteht darin, dass mit dem Lehrabschluss das finale Bildungsniveau erreicht sei. Tatsächlich öffnet die Lehre eine Vielzahl an Weiterbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten. Neben der Berufsmatura können Absolventinnen und Absolventen etwa eine Meister- oder Befähigungsprüfung ablegen, eine Werkmeisterschule besuchen oder – bei entsprechender Qualifikation – ein Studium an einer Fachhochschule oder Universität absolvieren.

Diese Durchlässigkeit fördert individuelle Bildungsbiografien und ermöglicht es, berufliche Erfahrungen mit akademischer Qualifikation zu kombinieren. Besonders in technischen und handwerklichen Berufen bieten sich dadurch attraktive Entwicklungspfade. Die Lehre ist somit kein Bildungsendpunkt, sondern Ausgangspunkt für lebenslange berufliche und akademische Weiterentwicklung.

Bedeutung für Betriebe und Volkswirtschaft

Für österreichische Unternehmen stellt die Lehrlingsausbildung einen strategischen Bestandteil der Personalentwicklung und Fachkräftesicherung dar. Der demografische Wandel und der zunehmende Fachkräftemangel erfordern langfristige Planung und Investitionen in die Qualifikation junger Menschen. Viele Betriebe setzen gezielt auf eine hochwertige Ausbildung, um qualifizierte Nachwuchskräfte frühzeitig zu identifizieren, einzuarbeiten und betrieblich zu binden.

Darüber hinaus ist die Lehre ein bedeutender volkswirtschaftlicher Faktor. Laut Schätzungen des WIFO (2023) spart die Integration von Lehrlingen in den betrieblichen Alltag jährlich erhebliche Kosten im Bereich Rekrutierung, Einarbeitung und Fluktuation. Gleichzeitig fördern Lehrabsolvent/-innen durch ihre betriebliche Erfahrung und Loyalität die Innovationskraft, Produktivität und Stabilität – insbesondere im mittelständischen Bereich, der das Rückgrat der österreichischen Wirtschaft bildet.

Begabungs- und Begabtenförderung in der dualen Ausbildung

Ein oft unterschätztes Potenzial der Lehre liegt in der gezielten Förderung besonders engagierter und talentierter junger Menschen. In Österreich gibt es eine Vielzahl an Initiativen, Programmen und Wettbewerben – wie etwa SkillsAustria (österreichisches Kompetenzzentrum für Berufswettbewerbe und Talenteförderung in der Berufsbildung: AustrianSkills, EuroSkills, WorldSkills) – die leistungsstarke Lehrlinge unterstützen, fordern und sichtbar machen. Darüber hinaus bieten Stipendienprogramme und spezielle Fördermaßnahmen wie das „Talente Praktikum“ oder der „Leistungswettbewerb der Lehrlinge“ die Möglichkeit, außergewöhnliche Fähigkeiten weiterzuentwickeln und berufliche Exzellenz zu fördern.

Diese Begabtenförderung trägt nicht nur zur individuellen Persönlichkeits- und Karriereentwicklung bei, sondern wirkt auch motivationssteigernd auf das gesamte Ausbildungssystem. Sie zeigt: Die duale Ausbildung ist nicht nur für praktisch Begabte, sondern auch für leistungsorientierte, kreative und ambitionierte Jugendliche ein attraktiver Bildungsweg mit exzellenten Entwicklungsperspektiven.

Die Lehre als zukunftssicheres Bildungsmodell in Österreich

Die Lehre in Österreich ist also ein sehr leistungsfähiges, adaptives und zukunftsorientiertes Ausbildungssystem, das individuelle Entwicklungschancen mit volkswirtschaftlicher Relevanz verbindet. Angesichts multipler Herausforderungen – vom demografischen Wandel bis zur Digitalisierung – erweist sie sich als resilientes Bildungsmodell, das sowohl junge Menschen als auch Betriebe nachhaltig stärkt.

Es ist daher geboten, das gesellschaftliche Ansehen der Lehre weiter zu fördern, Vorurteile abzubauen und die duale Ausbildung als gleichwertige – nicht nachgeordnete – Bildungsoption anzuerkennen. Nur durch eine integrative Bildungspolitik, die akademische und berufliche Bildungswege als komplementär begreift, kann Österreich sein Arbeitskräftepotenzial optimal nutzen und gleichzeitig soziale Mobilität und wirtschaftliche Innovationskraft langfristig sichern.

Frage-Antwort-Ping-Pong

Blogbeitrag von Daniel Kienasberger, MEd